Die Trennung von Kindern und Eltern in Dublin-Haft verstösst gegen die EMRK

03.07.2017 , in ((«Good Practices»)) , ((Keine Kommentare))
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Am 26. April 2017 entschied das Bundesgericht in einem Grundsatzentscheid zur Dublin-Haft: Die separate Inhaftierung von Mitgliedern einer afghanischen Familie sowie die Fremdplatzierung der betroffenen Kinder hat das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierte Recht auf Familienleben verletzt. Die Inhaftierung des Ehepaares im Kanton Zug lässt sich zudem laut Bundesgericht nur «knapp» nicht als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäss EMRK qualifizieren.

Eltern getrennt in Haft, Kinder im Heim

Was war passiert? Dem Urteil lag folgender Fall zugrunde: Eine fünfköpfige afghanische Familie war im Mai 2016 von Norwegen über Deutschland irregulär in die Schweiz eingereist und hatte hier ein Asylgesuch gestellt. Die Familie wurde dem Kanton Zug zugewiesen. Einen Monat später brachte die Mutter ein viertes Kind zur Welt.

Nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin III-Verordnung, an die die Schweiz durch das Dublin-Assoziierungsabkommen gebunden ist, erachtete das Staatssekretariat für Migration (SEM) Norwegen als zuständigen Staat für die Prüfung des Asylgesuchs. Deshalb wurde auf das Gesuch der Familie nicht eingetreten und deren Wegweisung nach Norwegen verfügt. Eine Beschwerde dagegen wurde abgewiesen. Im Oktober 2016 wurde ein unbegleiteter Rückführungsversuch nach Oslo abgebrochen, weil die Eltern angeblich die Reisedokumente ihrer Kinder nicht zurückerhalten hatten und daher den Linienflug nicht antreten wollten. Eine begleitete Rückführung («Sonderflug») wurde daraufhin in die Wege geleitet und Dublin-Haft angeordnet, um die Überstellung sicherzustellen. Frau A. wurde mit ihrem inzwischen viermonatigen Baby im Flughafengefängnis Zürich, ihr Ehemann in der Abteilung Ausschaffungshaft der Strafanstalt Zug untergebracht. Die drei älteren Kinder wies die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) in ein Kinderheim ein. Dabei war telefonischer Kontakt den Familienmitgliedern untersagt.

Verletzung des Rechts auf Familienleben

Das Bundesgericht hält diese Trennung der Familie für nicht mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) vereinbar. Das Bundesgericht kritisiert: indem die Behörde die Kinder im Heim untergebracht hat, wurden sie zu «unbegleiteten» Minderjährigen. Die Zusammenführung mit nahen Verwandten wurde verhindert, zu der sie nach Art. 8 EMRK gerade verpflichtet gewesen wäre. Ein solcher Eingriff ist nur zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen Grundlage beruht und im überwiegenden öffentlichen Interesse erfolgt – wobei bei der Interessensabwägung das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Das Bundesgericht betont, dass dem Kindswohl dabei eine «herausragende Bedeutung» zukommt. Die separate Inhaftierung kommt, da in das Recht auf Familienleben eingegriffen wird und weil das Kindeswohl berücksichtigt werden muss, ausschliesslich als ultima ratio in Frage. Dabei müssen vorgängig weniger einschneidende Massnahmen geprüft werden: beispielsweise die Unterbringung der Familie in kantonseigenen Liegenschaften oder in Unterkünften, die vom Kanton gemieteten werden. Diese Prüfung ist laut Bundesgericht von der Vorinstanz nicht vorgenommen worden, weshalb die getrennte Inhaftierung des Ehepaares A. und die Fremdplatzierung ihrer drei ältesten Kinder nicht als ultima ratio angesehen werden kann.

Nur «knapp» keine Folter

Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) sieht das Bundesgericht gerade noch als nicht gegeben an: Zwar habe sich das Ehepaar in einer Situation befunden, die erheblichen Stress und Ohnmachtsgefühle ausgelöst habe. Die «menschliche Not», die das Ehepaar empfunden hat, ist laut Bundesgericht insbesondere durch den verwehrten telefonischen Kontakt untereinander und zu den Kindern intensiviert worden. Aufgrund des Umstands, dass die Kinder kindsgerecht untergebracht waren, ist jedoch die Schwelle einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung «knapp noch nicht» erreicht worden.

Zu einer Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) äussert sich das Bundesgericht wegen der bejahten Verletzung von Art. 8 EMRK nicht.

Urteil mit Signalwirkung

Das Urteil ist von erheblicher Bedeutung, da es für zukünftige Fälle von Dublin-Haft die Weichen stellt. Nun steht fest, dass nur in äussersten Ausnahmefällen Familien getrennt werden dürfen, indem die Behörden die Eltern inhaftieren. Es ist stets gründlich zu prüfen, ob ein milderes Mittel als die Inhaftierung der Eltern (und demzufolge die Trennung der Familie) zur Verfügung steht; zum Beispiel die Unterbringung der Familie in kantonalen Unterkünften.

Die Zuger Sicherheitsdirektion kritisiert das Urteil des Bundesgerichts: In letzter Konsequenz bedeutet es, dass es in der Praxis kaum mehr möglich wird, nicht rückreisewillige Familien auszuweisen. Es gibt schweizweit keine familiengerechten Unterbringungsmöglichkeiten bei der Administrativhaft. Das ist in unseren Augen insofern irrelevant, als Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren nach Art. 80a Abs. 5 AuG (Ausländergesetz) ohnehin nicht inhaftiert werden dürfen. Die Gefahr, dass Familien mit kleinen Kindern untertauchen, scheint schliesslich nach unserer Auffassung durch die Behörden stark überschätzt zu werden.

Das Urteil ist daher ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Zu bedauern ist jedoch, dass das Bundesgericht zu Art. 3 EMRK ausführt, die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sei «knapp noch nicht» erreicht. Und zu Art. 5 EMRK bezieht es gar keine inhaltliche Position. Hier wären klarere Vorgaben wünschenswert.

Sarah Progin-Theuerkauf, Projektleitering, nccr – on the move, Universität Freiburg
Salome Schmid, Doktorandin, nccr – on the move, Universität Freiburg

 

Zur Vertiefung: Progin-Theuerkauf, Sarah und Salome Schmid. «Grenzen der Dublin-Haft von Familien im Fokus des Bundesgerichts.», sui generis 2017: 85–90.

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