Ein Plädoyer für den Erhalt der offenen Grenzen in Europa

08.03.2016 , in ((Politique)) , ((Pas de commentaires))

Neben dem Euro ist die Reisefreiheit innerhalb Europas einer der sichtbarsten Erfolge der europäischen Integration. Jeder Bürger Europas kann davon profitieren und entscheiden, im Nachbarland einzukaufen, Urlaub zu machen, zu arbeiten oder dort hin zu ziehen. Wie gross dieses Privileg ist, scheint den meisten EuropäerInnen jedoch kaum bewusst zu sein – ausser sie halten sich ausserhalb Europas auf und müssen plötzlich wieder an Grenzen warten, werden kontrolliert und müssen in fremden Währungen bezahlen.

Diese Erfolge der europäischen Integration werden allerdings immer öfter in Frage gestellt. In der Wirtschaftskrise wurde der Euro als gemeinsame Währung wiederholt massiv kritisiert. Nun werden in der aktuellen Flüchtlingskrise auch die offenen Binnengrenzen in Frage gestellt. Immer mehr  Mitgliedsstaaten des Schengenraums haben wieder Grenzkontrollen eingeführt, auch wenn diese bisher laut den Schengenregeln erstmal nur zeitlich begrenzt sein dürfen. Der Ruf nach der Wiedereinführung interner Grenzen wird jedoch immer lauter, um die Flüchtlingsströme besser kontrollieren zu können.

Es ist allerdings äußerst fragwürdig, inwiefern die Schliessung der internen europäischen Grenzen helfen könnte, Migrations- und besonders Flüchtlingsströme zu kontrollieren. Wenn alle Länder auf der sogenannten Balkanroute ihre Grenzen dauerhaft schliessen, führt dies nur dazu, dass sich das Problem weiter an die Aussengrenzen und die dort liegenden Staaten verlagert – also zurzeit besonders Griechenland. Ausserdem handelt es sich bei den meisten EU Binnengrenzen um Landgrenzen. Diese Grenzen wirksam zu schützen und Flüchtlinge daran zu hindern, die Grenzen an unkontrollierten Abschnitten zu Fuss zu überqueren, kann eigentlich nur mit dem Bau von Zäunen möglich sein.

Grenzzäune verhindern keine Einwanderung

Was aber ist die logische Folge einer solchen Politik? Wollen wir es wirklich darauf ankommen lassen, dass Flüchtlinge auch mit Waffengewalt aufgehalten werden sollen? Bisher wurde es immer als grosse Errungenschaft Europas gefeiert, dass es eine solche Grenze auf unserem Kontinent seit über 25 Jahren nicht mehr gibt. Und dass die Errichtung von Grenzzäunen oder Mauern, von denen Einwanderungsgegner weltweit träumen, kein wirksames Mittel zur Grenzkontrolle ist, zeigt sich sehr deutlich an den Grenzen der USA und den EU Aussengrenzen in den spanischen Exklaven Ceuta und Mellila. Auch dort können die High-Tech Zäune und Grenzanlagen irreguläre Einwanderung nicht verhindern.

Die Wiedereinführung von Binnengrenzen ist kein wirksames Mittel, um der humanitären Krise, die sich derzeit besonders in Griechenland ereignet, gerecht zu werden. Auch wenn populistische Parteien dieser Argumentationslinie folgen, wäre eine solche Politik mit enormen Kosten verbunden. Grenzstationen müssten wieder errichtet und Kontrollpersonal eingestellt und bezahlt werden. Dazu kämen die enormen wirtschaftlichen Kosten, die durch die Wiedereinführungen von Grenzkontrollen entständen. Laut einer Studie der deutschen Bertelsmann Stiftung vom Februar 2016 würde das Ende von Schengen in Europa zu erheblichen Wachstumsverlusten führen. Bis 2025 rechnet die Stiftung mit einem Wachstumsverlust von 470 Milliarden Euro, was eine Gefahr für Wachstum und Wohlstand in einem ohnehin schon geschwächten Europa darstellt. Diese Summe setzt sich vor allem aus den Zeitverlusten zusammen, die bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen entstehen. Durch die längeren Wartezeiten an den Grenzen müssten Lagerbestände erweitert werden und Spediteure mehr Personal einstellen, um Lieferungen noch pünktlich gewährleisten zu können. Die damit verbunden Kosten würden zu Preissteigerungen führen, die auch Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas hätten.

Mehr finanzielle Mittel für eine nachhaltige Flüchtlingspolitik

Die Kosten von einem Ende des Schengenraums sind aber nicht nur wirtschaftlich. Die Flüchtlingskrise trifft die Europäische Union tief in ihrem Selbstverständnis als Hüterin der Menschenrechte. Die EU hat sich immer als normative Macht verstanden, die die Menschenrechte auch in anderen Teilen der Welt propagierte. Dass nun die eigene Grenzpolitik und die wiedererstarkten nationalstaatlichen Interessen diese «Menschlichkeit» ins Wanken bringen, wirft die Frage auf, welche Werte in der EU noch zählen. Gelten Menschenrechte nur für Menschen, die innerhalb der EU geboren sind? Ist die EU «nur» noch ein reiner wirtschaftlicher Interessenverband, von dem Mitgliedsstaaten profitieren können, solange es in ihrem nationalen Interesse ist? Wieso war es möglich, in der Bankenkrise in kürzester Zeit finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um sogenannte systemrelevante Banken zu retten? Wieso konnten Milliarden für Rettungsschirme in der Währungskrise zur Verfügung gestellt werden, um die Misswirtschaft einzelner Mitgliedsstaaten auszugleichen? Und warum ist es jetzt nicht möglich solche Mittel für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung zu stellen?

Anstatt darüber nachzudenken Milliarden in Grenzsicherung zu stecken, könnte man diese Gelder sinnvoller für eine gemeinsame Versorgung der Flüchtlinge einsetzen und Fluchtursachen auch tatsächlich bekämpfen. Dazu gehört eine langfristige finanzielle Unterstützung internationaler Organisationen wie des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen UNHCR oder des Welternährungsprograms sowie das sofortige Ende von Waffenlieferungen in den Nahen Osten. Wieso ist es möglich, dass die Türkei und kleine Nachbarländer wie Jordanien und der Libanon, sowie selbst krisengebeutelte Staaten wie der Irak und Ägypten mehr Flüchtlinge aufnehmen als die gesamte Europäische Union? Laut Amnesty International sind in Jordanien mittlerweile beinahe 10% der Bevölkerung Flüchtlinge, im Libanon, der über 1 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, beträgt diese Zahl sogar 20%. Und, mit 2,5 Millionen Flüchtlingen hat die Türkei die meisten syrischen Flüchtlinge weltweit aufgenommen. Diese Länder und die Organisationen, die dort die Flüchtlingscamps betreuen, sind ebenfalls „systemrelevant“. Sollte sich die Situation für die Flüchtlinge dort weiterverschlimmern, wird der Flüchtlingsstrom in die EU weiter bestehen.

Was Europa braucht sind keine wiedererrichteten Binnengrenzen, die die Erfolge der EU in Frage stellen, sondern endlich Solidarität. Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten, und, noch wichtiger, Solidarität mit den Flüchtlingen.

Eva Zschirnt
Doktorandin, nccr – on the move, Universität Neuenburg

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