Europäischer Gerichtshof: Keine humanitären Visa für Flüchtlinge

06.04.2017 , in ((Politica)) , ((No commenti))

Die Schweiz stellt humanitäre Visa für Flüchtlinge aus. Nun hat der Europäische Gerichtshof EuGH mit seinem Urteil «X und X gegen Belgien» entschieden, dass die Ausstellung von Schengen Visa für die legale (und sichere) Einreise in die EU rechtswidrig ist. Anderer Auffassung war der Generalanwalt Paolo Mengozzi, der eine gegenläufige Interpretation der Rechtslage forderte.

Die rechtliche Frage, die das Gericht zu beantworten hatte, ist nicht neu: wie soll der Schengen Visakodex ausgelegt und das humanitäre Visa angewandt werden? Das humanitäre Visum erlaubt einer ausländischen Person die legale Einreise in einen Schengen Staat – und zwar für einen Aufenthalt von bis zu 90 Tagen. Anders als das herkömmliche, einheitliche Visum, ist es nur für das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates (selten für mehrere Mitgliedstaaten) gültig. Ein humanitäres Visum kann ausgestellt werden, wenn ein Staat aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen dies für notwendig hält. Dabei müssen die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllt sein. Umstritten waren bisher insbesondere die Auslegung der Begriffe «humanitäre Gründe» und «internationale Verpflichtungen». Denn: Sind die Schengener Staaten verpflichtet, ein humanitäres Visum zu erteilen oder ist die Erteilung freiwillig? Wie unterschiedlich die Auslegung ist, zeigt sich alleine aus der Visa Statistik der Schengen Staaten: im Jahr 2015 erteilte die Schweiz 22’970 «humanitäre» Visa, Frankreich nur deren 3’179; Tschechien hat sechsmal mehr «humanitäre» Visa ausgestellt als die Slowakei.

Europäisches oder nationales Recht?

Die Europäische Kommission und eine Vielzahl der Schengen Staaten vertraten die Meinung, dass sich ein Antrag auf Visum, wenn von vornherein ein Aufenthalt von mehr als 90 Tagen angestrebt wird, nicht auf EU Recht stützen darf. Alle Aufenthalte, die über 90 Tage dauern, unterliegen dem nationalen Recht. Ein Visum aus humanitären Gründen kann demzufolge gar nicht beantragt werden. Visa aus humanitären Gründen dürfen von Mitgliedstaaten nur ausgestellt werden, wenn sich bei der Prüfung des herkömmlichen Visumsantrags herausstellt, dass ein Visum für maximal 90 Tage ausgestellt werden kann, obwohl nicht alle Voraussetzungen erfüllt worden sind – eben aus humanitären Gründen wie der Besuch eines kranken Familienmitglieds zum Beispiel.

Eine andere Meinung vertrat der Generalanwalt Paolo Mengozzi: seiner Meinung nach kann ein Visum aus humanitären Gründen sehr wohl von Flüchtlingen beantragt werden. Er führte aus, dass die Bestimmungen der EU Grundrechtscharta sowie diejenigen der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK bei der Beurteilung von humanitären Gründen berücksichtigt werden müssen.

Der EuGH entschied schliesslich, dass ein beabsichtigter Aufenthalt von über 90 Tagen nicht durch das EU Recht geregelt wird. Jedoch unterliegen Aufenthalte im Schengen Raum von bis zu 90 Tagen dem EU Recht. Demzufolge dürfen die Schengen Staaten die Frage nach der Ausstellung von Schengen Visa nicht unterschiedlich beantworten. Die Entscheidung des EuGHs unterstrich die Grenzen der Kompetenzen zwischen EU und nationalem Recht sehr deutlich.

Zwar erlaubt es die Ausnahmeklausel in Art. 25 des Schengens Visa Kodex, einer Person (unter anderem aus humanitären Gründen) die Einreise zu gestatten, auch wenn nicht alle Voraussetzungen erfüllt sind. Jedoch darf diese Person danach maximal 90 Tage im Schengen Staat bleiben. Somit erfüllt eine ausländische Person, die einreist und ein Asylgesuch stellt, diese Bedingungen nicht – denn diese Person wird sich länger als 90 Tage im Schengen Raum aufhalten. Ein solcher Antrag fällt somit unter das nationale Langzeitvisum, auf das die Vorschriften der EU Grundrechtscharta keine Anwendung finden. Wollen die Schengen Staaten einen legalen Zugang zum Asylverfahren schaffen, müssen sie sich auf das nationale Recht stützen.

Im Lichte dieser Auslegung bleiben alle Vorschläge zur Änderung des Visa Kodex in Bezug auf humanitäre Visa überflüssig. Der Vorschlag des EU Parlaments, die Möglichkeit der Vergabe von humanitären Visa mit dem Verweis auf die Verpflichtung gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention zu bekräftigen, kann nach diesem Entscheid des EuGHs gar nicht angenommen werden (Amendment 94). Zusammenfassend: der Schengen Visa Kodex wurde mit diesem Entscheid für Asylsuchende endgültig geschlossen.

Dieses Urteil hat grosse Auswirkungen, denn einzelne Länder stellten bereits humanitäre Visa aus – unter anderem die Schweiz. Rund 5’000 Syrische StaatsbürgerInnen konnten dank einem humanitären Visum regulär in die Schweiz einreisen und einen Asylantrag stellen. Ein ähnliches Programm hat Italien in die Wege geleitet. Auch Belgien hat Schengen Visa für Flüchtlinge erteilt.

Welche Folgen wird das Urteil für die Schweiz haben?

Die Schweiz hat nicht nur mehrere tausend Flüchtlinge mit einem Schengen Visum in die Schweiz einreisen lassen. Das Schweizer Recht regelt dieses Vorgehen darüber hinaus ausdrücklich. Ausserdem hat das Bundesverwaltungsgericht diese Praxis mehrfach bestätigt. Laut des Schengen Assoziierungsabkommens ist die Schweiz nicht an die Rechtsprechung des EuGHs gebunden. Und dennoch soll eine möglichst einheitliche Anwendung und Auslegung des Schengen Rechts erreicht werden. Kommt es zu einer wesentlichen Abweichung zwischen der Rechtsprechung des EuGHs und derjenigen der schweizerischen Gerichte, so muss die Streitigkeit innerhalb des Gemischten Ausschusses beseitigt werden. Der jüngste Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts (Abteilung VI, F-996/2016, Entscheiddatenbank BVGer) vom 13. März 2017 zeigt, dass die Schweiz trotzt des EuGH Urteils an ihrer Praxis festhalten will.

Marek Wieruszewski
Doktorand, nccr – on the move, Universität Bern

Weitere Informationen
Zum Schengen Humanitären Visa

Zur Stellungnahme des Generalanwalts

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