Beschert uns die Personenfreizügigkeit tiefere Löhne und Arbeitslosigkeit?

24.08.2020 , in ((Limitation initiative)) , ((No Comments))

Migration ist in der Schweiz ein Thema, das Emotionen schürt. Man spricht in diesem Kontext häufig von Überfremdungsängsten, Dichtestress und Integrationsschwierigkeiten. Am meisten Anlass zu Befürchtungen gibt aber die Annahme, dass die zunehmende Konkurrenz durch Zuwandernde die Löhne der Einheimischen senkt oder sie gar aus dem Arbeitsmarkt verdrängt. Viele dieser Ängste und Sorgen der Bevölkerung werden mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU in Verbindung gebracht.

2014 wurde eine Volksinitiative knapp gutgeheissen, welche darauf abzielte, die sogenannte «Masseneinwanderung» aus der EU zu stoppen und somit den oben erwähnten Problemen und Ängsten Rechnung zu tragen. Die nächste Abstimmung zum Personenfreizügigkeitsabkommen steht kurz bevor: Am 27. September 2020 befindet die Schweizer Stimmbevölkerung über die Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung». Während die Befürworter*innen argumentieren, dass die Zuwanderung zur Verdrängung von Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt führt und man diese daher begrenzen muss, weisen die Gegner*innen auf den Fachkräftemangel hin und unterstreichen, dass die vornehmlich hochqualifizierte Zuwanderung aus dem EU-Raum diesem Problem entscheidend entgegenwirkt.

Theorie liefert keine eindeutigen Antworten

Die Wirtschaftstheorie liefert keine eindeutige Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen die Zuwanderung auf die Arbeitsmarktsituation von Einheimischen hat:

Eine zentrale Rolle spielen erstens die Kompetenzen der Zuwandernden. Besitzen die Immigrant*innen ähnliche Fähigkeiten wie die Inländer*innen, werden sie auf dem Arbeitsmarkt vermutlich um dieselben Arbeitsplätze konkurrieren und in einem substitutiven Verhältnis zueinanderstehen. Unterscheiden sich jedoch Zuwandernde und Einheimische in ihren Kompetenzen, so werden sie einander eher ergänzen. In der Theorie wird davon ausgegangen, dass Zuwanderung die Löhne und die Beschäftigungssituation von konkurrierenden Arbeitskräften ungünstig beeinflusst. Ergänzen sich hingegen Zuwandernde und Einheimische, so profitieren letztere von der Immigration. Hochqualifizierte ergänzen einander eher als Niedrigqualifizierte, da sie spezifischeres Humankapital besitzen.

Zweitens stellt sich die Frage nach dem Zuwanderungsgrund. Ist die Migration nicht arbeitsmarktgesteuert, führt sie zu einer Ausdehnung des Angebots an Arbeitskräften, ohne dass eine erhöhte Nachfrage vorliegt. In diesem Fall ist eine Reduktion des Lohnniveaus die Folge. Sind die Löhne jedoch aufgrund von Regulierungen und Transaktionskosten nicht flexibel, können Verdrängungseffekte auftreten. Erfolgt die Zuwanderung hingegen nachfrageinduziert, ist sie von Knappheitsverhältnissen im Zielland getrieben. Das heisst, dass die Zuwanderung eine Reaktion auf die Ausdehnung der Arbeitsnachfrage darstellt. In diesem Fall kann die Zuwanderung einen knappheitsbedingten Lohnanstieg verhindern und die Beschäftigung bei konstant bleibenden Löhnen erhöhen. Die genauen Auswirkungen auf Lohn und Beschäftigung hängen aber auch vom Ausmass der Zuwanderung ab. Wenn mehr Personen einwandern als Nachfrage besteht, können negative Beschäftigungs- und Einkommenseffekte auftreten, während zu wenig Zuwanderung die Knappheitsverhältnisse nur teilweise lindert.

Die folgenden Fragen sind also zentral: Ist die Zuwanderung aus der EU nachfragebedingt oder nicht? Ergänzen oder ersetzen die Kompetenzen der Zuwandernden aus der EU diejenigen der inländischen Personen auf dem Arbeitsmarkt?

Auch wenn diese Fragen nicht abschliessend beantwortet werden können, haben wir gewisse Anhaltspunkte: So ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen der konjunkturellen Entwicklung und dem Zuwanderungssaldo aus der EU zu beobachten. Die Aufnahme von Arbeit ist der häufigste Einwanderungsgrund und die Entwicklung der Löhne sowie der Erwerbsbeteiligung durchaus positiv. Auch die Qualifikationsstruktur der Zuwandernden ist ein Indiz dafür, dass sich die Immigration aus der EU positiv auswirkt.

Empirische Evidenz spricht eine klare Sprache

Während die arbeitsmarktlichen Auswirkungen der Zuwanderung aus theoretischer Sicht nicht eindeutig vorhersagbar sind, ist die empirische Evidenz dazu eindeutig. In den letzten 15 Jahren sind verschiedene empirischen Untersuchungen zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Schweizer Arbeitsmarkt durchgeführt worden. Trotzt unterschiedlichen methodischen Ansätzen und Datenquellen ergibt sich ein einheitliches Bild: es sind keine weitreichenden negativen Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Schweizer Arbeitsmarkt und auf inländische Arbeitskräfte feststellbar.

In zwei Studien untersuchten wir den Zusammenhang zwischen der Zuwanderung aus den Freizügigkeitsstaaten und den Löhnen sowie der Beschäftigung von Inländer*innen. Unsere Regressionsanalysen der Auswirkung des Ausländeranteils in unterschiedlich abgegrenzten Teilmärkten des Arbeitsmarktes auf die jeweiligen Löhne und die Beschäftigungsstabilität haben aufgezeigt, dass die Zuwanderung keinen starken Einfluss auf die Entlöhnung und Beschäftigungssituation der Inländer*innen hat. In beiden Untersuchungen kristallisierte sich dennoch ein Muster heraus: Hochqualifizierte Schweizer*innen profitieren deutlich von der Zuwanderung während Niedrigqualifizierte teilweise negativ tangiert werden.

Die vornehmlich hochqualifizierte Zuwanderung aus dem EU/EFTA-Raum scheint somit in erster Linie den Nachfrageüberschuss an Fachkräften zu entschärfen und ein dadurch entstandenes Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt zu beheben. Gleiches lässt sich aber kaum für die Zuwanderung von Niedrigqualifizierten sagen. Da die Immigration von Niedrigqualifizierten jedoch quantitativ gering geblieben ist, halten sich auch die negativen Effekte in Grenzen. Insgesamt erzeugt die Zuwanderung also überwiegend positive Effekte für den schweizerischen Arbeitsmarkt.

Arbeitgebende und Arbeitnehmende profitieren vornehmlich von der Personenfreizügigkeit

Die Frage, wie sich die die Zuwanderung aus der EU auf den Schweizer Arbeitsmarkt auswirkt, lässt sich somit eindeutig beantworten. Zwar wäre es aus theoretischer Sicht unter gewissen Voraussetzungen möglich, dass Inländer*innen mit Lohnverfall und Verdrängung konfrontiert werden. Diese Voraussetzungen treffen jedoch auf die Zuwanderung in Rahmen der Personenfreizügigkeit nicht zu. Daher überrascht es kaum, dass die empirische Forschung bisher überwiegend positive Effekte festgestellt hat. In anderen Worten bedeutet dies, dass sowohl Arbeitgebende profitieren, indem sie auf einen grösseren Pool von qualifizierten Fachkräften zurückgreifen können, aber auch Einheimische einen Nutzen aus der Personenfreizügigkeit ziehen, weil sie von den Zugewanderten auf dem Arbeitsmarkt mehrheitlich gut ergänzt werden und die wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt positiv beeinflusst wird. Die Entwicklung der Beschäftigung und der Löhne verdeutlichen dies augenscheinlich.

Ensar Can hat an der Universität Basel eine Dissertation über den Schweizer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geschrieben und war Doktorand des «nccr – on the move». Aktuell arbeitet Ensar Can bei economiesuisse.

Referenzen:

– Can, Ensar, Nathalie Ramel & George Sheldon (2016). Effekte der Personenfreizügigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz. Basel: Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universität Basel.
– Can, Ensar (2014). Verdrängungseffekte des Freizügigkeitsabkommens Schweiz-EU auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Basel: Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universität Basel.
– Cueni, Dominique & George Sheldon (2011). Die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit der Schweiz mit der EU auf die Löhne einheimischer Arbeitskräfte, WWZ Forschungsbericht 2011/05, Universität Basel.

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