Ein Plädoyer für differenzsensible multikulturelle Politik

04.06.2020 , ((1 Commentaire))

Staatliche multikulturelle Politik bedeutet, der Vielfalt in der Bevölkerung in gesellschaftlichen, institutionellen und rechtlichen Kontexten Rechnung zu tragen. Das Beispiel von Mauritius eröffnet die Möglichkeit, eine differenzsensible Politik weiter zu denken und auf den spezifischen Auftrag der Sozialen Arbeit hinzuweisen.

Alle staatlichen Gesellschaften sind im Grunde multikulturelle Konstruktionen, ebenso ist ihre Politik in bestimmter Weise multikulturell, auch wenn multikulturell ausschliesslich für nationale, sprachliche, religiöse und ethnische Zugehörigkeiten stünde. Jedes politische Projekt besteht zudem aus vielen einzelnen Schritten, die nie ganz präzise aufeinander abgestimmt sind. Solche politischen Prozesse sind pluralistisch, weil die Interessen der sie gestaltenden Gruppen und Personen divergieren und weil sie auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen einer staatlichen Gesellschaft stattfinden.

Multikulturelle Politik

Politik ist also das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Gruppen und Personen mit verschiedenartigen Interessen, unterschiedlichem gesellschaftlichen, wirtschaftlichem und politischem Gewicht, sowie mit variierenden sozialen, geschlechtstypischen, milieuspezifischen, religiösen, kulturellen, ethnischen oder nationalen Zugehörigkeiten. Ihre spezifische Positionierung bestimmt, inwiefern Akteur*innen Zugang zu politischen Prozessen erhalten und daran teilhaben können.

Multikulturelle Politik gestaltet Aspekte des Zusammenlebens von Individuen mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten zu gesellschaftlichen Gruppen und zum Staat. Die Formulierung und Umsetzung einer multikulturellen Politik bedeutet dann, dass sich Personen mit unterschiedlichen ideologischen Positionen miteinander in einem Spannungsfeld resultatorientiert auseinandersetzen.

Das Beispiel Mauritius

Die interessenorientierte Ethnizität und die global ausgerichtete Ökonomie in Mauritius müssen vor dem historischen Hintergrund der von kolonialen Machtverhältnissen und Zwangsmigration geprägten Besiedlung der Inseln im indischen Ozean verstanden werden. Mauritius ist daher sowohl durch die europäische Aufklärung und Industrialisierung geprägt als auch durch Sklaverei und Vertragsarbeit.

Darauf gründet die heutige Konstellation, die ich als den postkolonialen konzeptuellen Raum des mauritischen Multikulturalismus bezeichnet habe (Waldis 2019). Einerseits beinhaltet dieser Raum die Ideologie einer indo-mauritischen Diaspora-Ethnizität, andererseits die Vorstellung der kreolischen Nation.

Die indo-mauritische Diaspora-Ethnizität ist eine postkoloniale, multikulturelle Konstruktion und setzt doch auf exklusive Gruppengrenzen und auf eine essentialisierte, unmittelbare Loyalität zur Gruppe. Die kreolische Metapher kann sich auf eine Sprache, einen Wandlungsprozess und eine ethnische Gruppenbezeichnung beziehen. Kreolisierung bedeutet neue Regeln schaffen, Gruppen neu zusammensetzen, Elemente anderer Gruppen borgen und existierende Elemente transformieren. Sobald allerdings eine ethnische Gruppe als kreolisiert bezeichnet wird, macht das transformative Element einer ethnisierenden Essentialisierung Platz.

Im postkolonialen Mauritius treffen diese beiden – an sich schon multikulturellen und kreolisierten – Ideologien des indo-mauritischen, differenzorientierten Nationalismus und der kreolischen Nation zusammen und schaffen eine spezifische multikulturell geprägte politische Praxis (Waldis 2019). Im Unterschied zum ebenfalls postkolonialen nordamerikanischen Multikulturalismus, bezieht sich der mauritische Multikulturalismus nur auf ethnische, sprachliche und religiöse Differenzen, während soziale, genderspezifische und andere Unterschiede nicht berücksichtigt werden. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt multikulturelle Politik zwischen Gruppen mit exklusiven Identitäten. Aus ihrer gegenseitigen Auseinandersetzung können intern differenzierende Mechanismen resultieren, die in einen gemeinsamen legalen Rahmen eingebettet werden oder auch nicht.

Vielfalt multikultureller Politik und Soziale Arbeit

Für eine differenzsensible, politische Praxis der Sozialen Arbeit lassen sich vom Beispiel Mauritius vier Thesen ableiten.

1) Die Gesellschaft in Mauritius, entstanden durch Immigration, wird als multiethnisch verstanden. Die Vielfalt der Bevölkerung – wenngleich auf Religion und Sprache reduziert – ist anerkannt. Im europäischen oder schweizerischen Kontext könnte dies bedeuten, offiziell von einer postmigrantischen, transnationalen Gesellschaft auszugehen, in der soziale, sprachliche, religiöse und weitere Unterschiede und gesellschaftliche Transformationen sowohl ‘Einheimische’ als auch Zugezogene betreffen.

2) Multikulturelle Politik ist eine politische Praxis und wird in einzelnen Projekten verwirklicht. Damit liegt das Augenmerk auf lösungsorientierten Prozessen von Personen und Gruppen mit unterschiedlichen Machtpositionen und verschiedenartigen politischen Ideologien: Wie nehmen sie Einfluss auf ein Projekt, wie formulieren sie es? Auf welchen Grundsätzen politischer Praxis beruht multikulturelle Politik? In der Schweiz bestimmen Grundsätze, wie z.B. die Berücksichtigung der Subsidiarität, die unterschiedlichen Sprachregionen, die Vertretung von Volk und Ständen, die Formel für die Mehrparteienregierung sowie teilweise das Geschlecht die Multikulturalität des politischen Systems.

3) Soziale multikulturelle Politik geht über Ethnizität hinaus und schliesst auch Geschlecht und Alter, sozioprofessionelles Milieu und Beeinträchtigung, Stadt-Land-Unterschiede sowie insbesondere politische Gesinnung mit ein. Dafür liefert die Soziale Arbeit eine exzellente Vorlage. Wie multikulturelle Politik will die Soziale Arbeit die Situation für Menschen in besonderen sozialen Problemlagen verbessern und allgemein die Gesellschaft sozial gerechter gestalten. In einer postmigrantischen, transnationalen Gesellschaft bedeutet dies für die Soziale Arbeit, die unterschiedlichsten Lebenslagen von Menschen zu kennen und sichtbar zu machen, ein Bewusstsein für einen inklusiven Umgang mit Differenz zu entwickeln und Institutionen und Gesetze so zu gestalten, dass sie den ersten beiden Punkten möglichst gerecht werden.

4) Die transformatorische Metapher der Kreolisierung schafft eine spannende Voraussetzung für den dialogischen Umgang mit Unterschieden. Diese Vorstellung von Politik geht von Differenz aus und ist unbequem, weil sie auf einen dynamischen Prozess und Anerkennung statt auf das Resultat fokussiert. Eine solche Politik ist aber auch faszinierend, weil sie zum Umdenken beiträgt, weil sie Aufmerksamkeit fördert, den Denkhorizont erweitert und nicht zuletzt Begegnungen mit Menschen in ihren vielfältigen Lebenslagen ermöglicht.

Fazit für eine differenzsensible Soziale Arbeit

Eine politische Praxis der Sozialen Arbeit bezeichne ich dann als differenzsensibel, wenn sie die unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen in einer Gesellschaft einbezieht, um auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit innovative Lösungen umzusetzen ohne dabei die dynamischen, unsicheren Transformationsmöglichkeiten aussen vor zu lassen.

Barbara Waldis ist Professorin an der HES-SO Valais-Wallis, Hochschule für Soziale Arbeit in Siders.

Literatur:

– Barbara Waldis (2019). Styles of Multiculturalism in Mauritius. A case study in education policy. Münster: Lit Verlag.

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